Dienstag 18. Oktober '11


Gefahr für den Fortbestand der Jazzförderung in Berlin in bisheriger Weise

Liebe Freunde, liebe improvisierende Musikerinnen und Musiker,

als Jazzredakteur im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von Berlin-Brandenburg fühle ich mich der Jazzszene der Region seit über 20 Jahren eng verbunden, bin sehr an deren Entwicklung und Stabilität interessiert und bemühe mich entsprechend meiner redaktionellen Möglichkeiten darum, diesen Anspruch mit Leben zu erfüllen.
Darüber hinaus versuche ich in verschiedenen Gremien auch ehrenamtlich, der Jazzszene eine Stimme zu geben – wie zum beispiel im Jazzbeirat des berliner Senats, dem ich von 1990 bis 2010 ununterbrochen angehörte.

Seit einiger Zeit erreichen mich immer wieder Informationen, dass die Strukturen der Förderung freier Gruppen mit Mitteln der öffentlichen Hand grundsätzlich verändert werden sollen.
Nun ist jede und jeder Einzelne mittelbar oder unmittelbar Betroffene aufgerufen, sich zu den öffentlich bislang nicht diskutieren Überlegungen zu positionieren.
Auch mir sind diese Überlegungen nicht im Detail bekannt, aber ich möchte meinen Informationsstand gern einem großen Kreis zur Verfügung stellen, um eine differenzierte Debatte zu diesem Thema anzustoßen. 

Worum geht es aus meiner Perspektive?

Das seit vielen Jahren – trotz vieler Kritikwürdigkeiten – im Großen und Ganzen recht gut funktionierende Model der Förderung freier Gruppen aus dem Bereich Jazz mit Mitteln aus dem Etat der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur ist ernsthaft in Gefahr!

Es gibt sehr ernst zu nehmende Bestrebungen, den ohnehin immer kleiner gewordenen Geldtopf für den Jazz zu zentralisieren.

Die Idee klingt zunächst sogar logisch und konsequent, wird deshalb in der Senatsverwaltung offenbar auch wohlwollend aufgenommen, ist letzten Endes stellt für die Musikerinnen und Musiker der Berliner Jazzszene aber eine evidente Bedrohung dar.

Was ist geplant?
Unter dem Namen Berlin Music Commission (BMC) haben sich die
Berlin Music Commission
Club Commission
Label Commission Berlin
zusammengeschlossen und unter der Überschrift „Musik 2020 Berlin“ eine „Kampagne zur Entwicklung des Musikstandortes Berlin“ entworfen, womit Einfluss auf Politik und Verwaltung genommen werden soll.
Genaueres findet man hier:
http://www.berlin-music-commission.de/200-1-MUSIK-2020-BERLIN.html
http://www.berlin-music-commission.de/87-1-MUSIK-2020-BERLIN.html

Geplant ist, etwa 400 Berliner (Markt-) Akteure der genannten Organisationen/Netzwerke zu vereinen. Bemerkenswert ist, dass es sich bei diesem Personenkreis fast ausschließlich um Veranstalter, Clubbetreiber bzw. Labels und Verlage handelt.

Auch dazu kann man sich hier detaillierter informieren:
http://www.berlin-music-commission.de/
http://www.clubcommission.de/
http://www.labcom-berlin.net/

Was sind die offensichtlichen Hauptziele?
Weiterbildung und Professionalisierung der musikwirtschaftlichen Akteure
institutionelle Absicherung der Musikwirtschaftsnetzwerke
internationales Marketing
Schaffung bzw. Sicherung günstiger Rahmenbedingungen für die Kreativwirtschaft durch die Stadtentwicklungspolitik in Berlin

Die Argumentation gründet sich auf die wachsende Zahl von Unternehmen und der darin Beschäftigen in der Berliner Kreativwirtschaft.
Die Ziele sind an sich nicht zu kritisieren, aber die spezifischen Bedürfnisse der Künstler/innen, sprich der Musiker/innen, werden dabei kaum erwähnt. Der „Künstler“ wird vielmehr als „Produkt“ eines Unternehmens verstanden, um ggf. von bereits existierenden Wirtschaftsförderungsprogrammen profitieren zu können.

Wie wenig bedeutsam den Initiatoren die Sicht (und Lage) der (Jazz-) Musiker/innen tatsächlich ist, spiegelt sich bereits in dem Umstand, dass im Kuratorium der BMC bislang weder Musiker/innen, noch andere sachkundige Interessenvertreter aus der Berliner Jazz-Szene oder dem Bereich der Zeitgenössischen Musik erkennbar vertreten sind.

Im Klartext heißt das: Die BMC will den direkten Zugriff auf die im Etat für freie Gruppen bereitgestellten Haushaltsmittel für die Förderung der sogenannten U-Musik (Populäre Musik und Weltmusik, Jazz).

Es heißt zwar, dass vorhandene (Förder-) Strukturen nicht demontiert werden sollen, aber ein zentrales Ziel der Kampagne ist u.a. die Aufhebung der bisherigen Unterscheidung zwischen den Bereichen „Populäre Musik und Weltmusik“ sowie „Jazz“ und letztlich auch „E- bzw. Zeitgenössische Musik“. Dies geschieht mit der Begründung, dass die Grenzen zwischen diesen Bereichen immer fließender werden. Das mag stimmen, gleichwohl hat die bisherige Förderungsstruktur die Szene(n) immer sehr belebt, ohne sie gegeneinander abzuschotten.

Was plant die BMC? Einige Stichpunkte:
Künftig soll es nur noch ein gemeinsames Vergabeverfahren für alle musikalischen Bereiche geben.
Ein Beirat/ eine Jury (welche Personen???) soll selbst Projekte initiieren bzw. konkrete Projekte vorschlagen dürfen.
Die Beirats-/Jurymitglieder treffen eine Vorauswahl
Beirats-/Jurymitglieder sollen (mit Verweis auf den Medienboard Berlin-Brandenburg) ganzjährig tätig sein bzw. sich auch als „Scouts“ oder „Mentoren“ etablieren.

Das bedeutet, die bisherigen Strukturen der Förderung der freien Musikszene durch die Berliner Kulturverwaltung werden nachdrücklich in Frage gestellt. Damit sind bisherige direkte Fördermaßnahmen wie der Tour-Support, Studienreisen, Kompositionsstipendien oder die Finanzierung von Studioproduktionen (Jazz) bzw. die Vergabe von Studioterminen (Populäre Musik, Weltmusik) in Gefahr. Das Argument der BMC lautet: Man bräuchte heute keine Tonstudios mehr, da es inzwischen genügend Möglichkeiten gäbe, auch mit eigenen Mitteln gute Aufnahmen zu produzieren (Homestudios etc.).
Darüber hinaus ist zu befürchten, dass langjährige und für die lebendige Berliner Jazzszene existentiell wichtige Konzertreihen wie die vom „Jazzkeller 69 e.V.“, vom „Jazzfront Berlin-Brandenburg e.V.“ (Jazz Units; Jazz Focus), vom „Jazzkollektiv Berlin“ (Kollektiv Nights) und etliche andere Initiativen, zahlreiche, künstlerisch anspruchsvolle und differenzierte Einzelprojekte oder Konzertreihen wie in der Gedächtniskirche und anderswo vom Aus bedroht sind.

Wenn auch noch (!) zurückhaltend, so hat die BMC dennoch deutlich gemacht, dass sie an den Entscheidungen über die Verwendung der im Haushalt der Berliner Kulturverwaltung für die Musikförderung zur Verfügung stehenden Mittel künftig maßgeblich beteiligt sein möchte. Letztlich wird wahrscheinlich angestrebt, den Etat – nach dem Vorbild der Initiative Neue Musik (INM; http://www.inm-berlin.de) – in Eigenregie zu verwalten.

All diese Absichten sind m.E. ganz klar darauf gerichtet, das bisherige Prinzip der Förderung freier Gruppen als Künstlerförderung abzuschaffen. Diese Sorge scheint auch deshalb mehr als begründet zu sein, da eine Vertretung der besonderen Interessen aktiver Musiker/innen aus dem Bereich Populäre Musik (Jazz, Pop, Weltmusik etc.) durch die BMC nicht offensiv angestrebt wird.

Es geht nicht darum, Vorschlägen zur Optimierung der Förderstrukturen für freie Gruppen a priori ablehnend zu begegnen. Schon allein deshalb nicht, weil es in der Vergangenheit auch immer wieder Unzufriedenheit unter den Antragstellerinnen und -stellern gab. Meines Wissens bezog sich diese Unzufriedenheit aber nicht vorrangig auf die Förderprinzipien an sich, sondern eher auf die Knappheit der zur Verfügung stehenden Finanzmittel.

Es sollte bei allen möglichen, durchaus denk und vorstellbaren Strukturveränderungen aber in erster Linie darum gehen, zu gewährleisten, dass nicht nur eine Interessengruppe allein Einfluss nimmt auf die weitere Entwicklung von Förderungsprogrammen/ -instrumenten der öffentlichen Hand.

Deshalb ist es dringend geboten, dass all jene aus der freien Berliner Musikszene aktiv werden, ihre Bedürfnisse artikulieren und sich zu Wort melden mit eigenen Ideen und Konzepten, die sich im beschriebenen Kontext nicht von einer wie auch immer gearteten „Commission“ angemessen vertreten fühlen.

Es gibt leider (!) keine schlagkräftige, organisierte Vertretung der Berliner Jazzszene mehr. Deshalb ist jede/r einzelne Musikerin/Musiker aufgerufen, ihre/seine Interessen gegenüber der Politik, insbesondere gegenüber der Berliner Kulturverwaltung zum Ausdruck zu bringen!

Es ist nicht nötig, dass sich jede/r der Empfänger/in dieser Mail (der Blindkopie-Verteiler ist relativ umfangreich) bei mir zurück meldet. Auf alle Fälle werde ich (aus Zeitgründen) nicht auf jede Rückmeldung reagieren (können)! Mir ist eine Debatte des Themas auf breiter Basis, nach demokratischen Prinzipien und vor allem im Interesse der Betroffenen wichtig!

Herzliche Grüße in die Jazz-Gemeinde

Ulf Drechsel
kulturradio vom rbb
JAZZREDAKTION
Masurenallee 8-14
14057 Berlin

E-Mail: ulf.drechsel  (@)  rbb-online.de