Duo, Trio und Quartett mit Manfred Schulze
1971, im Berliner Prater, lernte ich ihn kennen.
Die „Hymne“ war das erste Stück, das ich hörte, und der Anfang mit den leisen schreienden hohen Tönen entschied über meine Zukunft.
Sofort wusste ich, dass ich (nach überstandener Armeezeit) die Zusammenarbeit suchen würde.
Inzwischen gab es die Manfred-Schulze-Formation, als deren Gast ich gelegentlich mitspielte.
Diese Gruppe – nicht zu vergessen, dass sie auf höchstem Niveau zum Tanz spielte – bestand nicht lange, leider muss ich sagen, auch wenn sich erst durch ihr Auseinandergehen die Möglichkeit ergab, das Berliner Improvisations-Quartett zu gründen.
Die folgenden Jahre engsten Zusammenwirkens mit Manfred haben mich nachhaltiger geprägt, als es mir damals bewusst war.
Da war besonders seine ungeheure Energie, erlebbar schon bei der Autofahrt zum Spielort (er saß jahrelang selbst am Steuer), die im Gelegenheit bot, sich alles inzwischen vorgefallene von der Seele zu reden, aber auch mit Kommentaren zu versehen, die mir manchmal mit großer Verspätung wieder einfielen, wenn ich sie plötzlich in größere Zusammenhänge stellen konnte, die ihm schon klar vor Augen gestanden hatten.
Er hasste jedes intellektuelle Gehabe und verwendete einfache Worte, hinter denen mir erst allmählich seine Weltsicht deutlich wurde, bei der aus großer Skepsis nicht Resignation, sonder Aufbegehren erwuchs.
Aber warum nur von lange Vergangenem reden?
Als wir Manfred im August 2006 zu seinem 72. Geburtstag gratulierten, kam ich auf mein neues Stück zu sprechen, in dem ich nicht nur musiziere, sondern (wie unmodern!) aktuell-politische Texte verwende.
Ich begründete das mit den Worten: Manfred hat oft gesagt: „ Man kann doch nicht immer bloß so tun als ob!“ und erlebe seine heftig zustimmende Reaktion, die ich als Ermutigung gut gebrauchen konnte.
Überflüssig zu sagen, dass er seine ganze Energie in die Konzerte steckte. Während des Spielens und auch danach hat dies in mir Kräfte freigesetzt, die ich sonst wahrscheinlich nicht entdeckt hätte. Auch die für einen klassisch ausgebildeten Musiker nicht leichte Annäherung an die triolische Jazzrythmik wäre ohne ihn nicht denkbar.
Schließlich will ich die Verwendung der Ganztonleiter erwähnen, die der „Hymne“ und vielen anderen Stücken Manfred Schulzes zu Grunde liegt und als musikalische Erfindung ihm zuzuschreiben ist. 1)
Zwar hat sich auch Debussy gelegentlich der Ganztonleiter bedient, aber ihre Verwendung als Grundlage der Improvisation ist etwas ganz anderes.
Die Besonderheit besteht darin, dass es weder bevorzugte noch auszuschließende Zusammenklänge gibt, weil einerseits keine Dur- und Molldreiklänge entstehen, andererseits aber auch keine Halbtonreibungen.
Es wird ein Zusammenspiel mit großer melodischer Freiheit möglich.
Dieses Manfred-Schulze-Konzept, wie ich es nennen will, könnte von anderen Jazz-Gruppen mit großem Gewinn aufgegriffen werden.
Hermann Keller
1) Im hier vom Bläserquintett ausschnittweise gespielten „Choralkonzert“ kommt die Ganztonleiter allerdings nicht vor.
Lediglich ich selbst habe sie zu Beginn des Trios mit Konrad und Johannes Bauer verwendet.